Die Arnsteiner Bibel
vorgelesen auf dem Arnsteiner Abend am 12. September 2019
Sprecher A:
… (Bild 1: Kloster Arnstein)
Deshalb soll dieser Abend der Frühzeit von Kloster Arnstein und seiner im Mittelalter renommierten Schreibstube, dem Skriptorium gewidmet sein. Und natürlich dem berühmtesten Werk, das daraus entstanden ist, der großformatigen zweibändigen Arnsteiner Bibel. Hier gilt ein besonderes Dankeschön Charlotte Kramer, der Inhaberin des Faksimileverlags Müller und Schindler, für die Genehmigung, die Bilder zu verwenden.Wie einige von Ihnen sicher wissen, war Arnstein, damals Arenstein genannt, ursprünglich eine Burg, wie manche Überlieferungen meinen, sogar eine Raubritterburg, vermutlich zwischen dem Jahr 800 und 900 erbaut. 1139 wandelte Ludwig III., (Bild 2: Ludwig) der letzte Graf von Arnstein, dessen Ehe kinderlos blieb, seine Burg in ein Prämonstratenser-Kloster um. Er berief dazu eine Gruppe von 12 Prämonstratensern (Bild 3: Gottes Gnaden) und ebensovielen Laienbrüdern aus dem Kloster Gottesgnaden bei Calbe an der Saale zu sich und übergab ihnen seine Stammburg, die er zum Kloster Arnstein umwidmete. Er selbst trat im Alter von 30 Jahren dort als Laienbruder ein. Seine Ehefrau Guda zog als Klausnerin in ein benachbartes Gebäude.
Die Mönche des Gründungskonventes von Kloster Arnstein brachten aus Kloster Gottesgnaden (Sachsen) gemäß den Statuten des Ordens neben notwendigem Hausrat sieben Bücher (Bild 4: Handschriften) mit:
1. Ein Psalter: ein mittelalterliches liturgisches Textbuch mit Psalmen und Wechselgesängen
2. Ein Hymnar: eine Sammlung von Hymnen, einer einstimmigen und vielstrophigen Form des geistlichen Liedes, die im Gregorianischen Choral bis heute Verwendung im Stundengebet der römisch-katholischen Liturgie findet.
3. Ein Kollektar: ein Buch mit Texten zu den vorgeschriebenen Stundengebeten
4. Ein Antiphonar: es dient der geistlichen Chorgemeinschaft für den gemeinsamen Wechselgesang des Stundengebets. Es enthält die Melodien und Texte aller Gesänge des Stundengebets, die Antiphonen, von denen die Bezeichnung des Buches abgeleitet ist, nach dem Kirchenjahr angeordnet.
5. Ein Graduale: Ein Choralbuch zum Gebrauch bei der hl. Messe
6. Eine Regula: Ein Buch mit den Ordensregeln des Ordensgründers Norbert von Xanten
7. Missale: das Messbuch der lateinischen Kirche. Es beinhaltet den Ablauf für die Feier der hl. Messe an Sonn-, Fest- und Werktagen.
Dieser Grundstock der Klosterbibliothek wurde vergrößert durch Schenkungen und Kauf, insbesondere aber durch die Einrichtung eines Skriptoriums, (Bild 5: Skriptorium) das erst Mitte des 13. Jahrhunderts wieder aufgegeben wurde. Hier schrieben die Mönche liturgische und andere Bücher ab und illustrierten sie auch.
Aus den ersten 30 Jahren des Arnsteiner Skriptoriums ist das Gebetbuch der Stifterin Guda erhalten mit dem berühmten „Marienleich“, einem wohl von ihr verfassten Mariengebet.
In seiner Blütezeit in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts entstanden die künstlerisch schönsten und wertvollsten Bücher: Ein mit zahlreichen Initialen ausgestattetes dreibändiges Passionale, eine Sammlung von Märtyrerviten, das Kreuzeslob von Hrabanus Maurus und insbesondere die beiden Bände der Arnsteiner Bibel.
Diese berühmte „Arnsteiner Bibel“ orientiert sich in der künstlerischen Gestaltung an der Kunst der Rhein-Maas-Region, speziell an der großen Bibel des Klosters Floreffe bei Namur (Belgien) (Bild 6: Bibel von Floreffe) . Diese kam wohl durch Vermittlung von dessen Filialkloster Rommerskirchen/Rhein an die Lahn und wurde zur konkreten Vorlage für den Schreiber und die Buchmaler der Arnsteiner Bibel. Dort hat sie der Mönch Lunandus von 1170 bis 1172 abgeschrieben. (Bild 7: Schriftseite)
Das zweibändige Werk, das heute einen fast unermesslichen Wert darstellt, wird seit knapp 300 Jahren in London aufbewahrt. Wie kam es dazu? Der Agent eines Londoner Buchhändlers kaufte 1717 die „Arnsteiner Bibel“ zusammen mit zahlreichen anderen wertvollen Handschriften von Bibliotheken an Mosel und Rhein auf. (Bild 8: Initiale) In London erwarben die Büchersammler Lord Robert Harley (1661–1724) und sein Sohn Edward Harley (1689–1741) die Arnsteiner Bibel von ihrem Buchhändler Humfrey Wanley. Nach dem Tod der beiden Büchersammler übernahm die britische Regierung 1753 komplett deren wertvolle Handschriftensammlung für 10 000 Pfund und wurde so zum Grundstock der heutigen British Library. In deren Showroom wird die „Arnsteiner Bibel“ als einer ihrer größten Schätze oft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Sprecher B: "Liber sancte Marie sanctique Nycolai in Arrinstein. Quem si quis abstulerit, morte moriatur, in sartagine coquatur, caducus morbus instet eum et febres, et rotatur et suspendatur. Amen."
Ja, liebe Gäste, das klingt ja nun wie ein frommes Gebet, aber hier die Übersetzung:
"Buch der heiligen Maria und des heiligen Nikolaus in Arnstein. Wenn es jemand wegnimmt, soll er den Tod erleiden, in einer Pfanne gekocht werden, die Fallsucht soll ihn ergreifen und Fieber, man soll ihn rädern und aufhängen. Amen." (Bild 9: Fluch)
Ein frommes Gebet ist das ja nun wirklich nicht, aber dieser originellen Bücherfluch am Schluss des ersten Bandes ist wohl ein Ausdruck der Wertschätzung der Schreibermönche für ihr wunderbares, aber mühevolles Werk, ihrer prachtvoll illuminierten Bibel...(Bild 10: Salomon)
Lunandus, oder Pater Lunand, wie er auch in manchen Texten heißt, hat sie geschrieben, der Fluch allerdings ist etwas neueren Datums und von einem anderen Schreiber später hinzugefügt worden, er selbst bittet nur den Leser, für ihn zu beten, dass seine Seele später in Frieden ruhen könne ....
Schon im frühen Mittelalter begann man in den Klöstern großformatige Bibeln herzustellen, welche alle Bücher des Alten und Neuen Testamentes in lat. Sprache enthielten. Oft waren sie zweibändig, wie die Arnsteiner Bibel. Jeder ihrer Bände ist 54 cm hoch und aufgeschlagen etwa 70 cm breit. Sie gilt in Fachkreisen als eine der schönsten Bibeln des Mittelalters.
Die Handschrift hat zwar einige Initialen verloren, weist aber trotzdem noch einen reichen Initialenschmuck auf. Es sind in der überwältigenden Zahl Rankeninitialen. Einige Buchstaben-Initialen besitzen figürlichen Schmuck, wie etwa die große Salomonsinitiale, die Sie hier im Bild sehen, vor allem die großformatigen Zierseiten der vier Evangelien. (Bild 11: Lukas/Quoniamseite)
Wir sehen den Anfang des Lukasevangeliums mit seinem großen „Q“ vor leuchtendem Goldgrund, dessen Schwänzchen ein brauner, sich ringelnder Drache bildet. Vom „Q“ eingerahmt, sehen wir Lukas mit Schreibpult, Feder und Tintenhörnchen. Das „Q“ ist der erste Buchstabe im Lukasevangelium, das im Lateinischen mit dem Wort „Quoniam (quidem multi conati sunt)“ beginnt (Buchstaben zeigen!), im Deutschen etwa mit „obwohl“ oder „weil“ zu übersetzen. Lukas hat seinem Evangelium eine Einführung vorangestellt – Sinngemäß: Obwohl schon andere vor mir die Begebenheiten aufgeschrieben haben, will ich es jetzt auch noch tun...
(Bild 12: Johannesseite) Und hier der Beginn des Johannesevangeliums, wo im großen „N“ der beiden lat. Worte In principio..., deutsch: Am Anfang – war das Wort, Johannes als Schreiber zu sehen ist. (Buchstaben zeigen!) Sein Symboltier, der Adler, sitzt ihm auf der Schulter und diktiert ihm unter der segnenden Hand von Christus den Text.
Wie Lunandus damals genau gelebt hat, wissen wir leider nicht, aber eins wissen wir sicher: er muss sehr geschickte Hände gehabt haben, denn er war der erste namentlich bekannte und damit berühmteste Schreiber des Klosters, das damals ja eine berühmte und hochwertig ausgestattete Schreibstube unterhielt, (Bild 13: Skriptorium) in der die prachtvollsten und schönsten Bücher entstanden sind. Im 12. Jahrhundert gab es ja noch keine Buchhandlungen, wo man die Mönche bei Bedarf einfach z.B. eine Bibel kaufen konnte und Buchdruckereien waren auch noch nicht erfunden. Wenn ein Kloster also eine Bibel oder ein Liederbuch haben wollte, musste es sich von einem befreundeten Kloster das entsprechende Buch ausleihen und dann wurde das von den sogenannten Schreibermönchen in der Klosterschreibstube abgeschrieben.
Sprecher A: Ja, wie schon gesagt, mehr wissen wir über Lunandus nicht; aber weil wir einiges über das Klosterleben vor 800 Jahren wissen, können wir uns eine Vorstellung davon machen, wie er wohl gelebt und gearbeitet hat:
Lunandus war also Schreiber, d.h., dass er auf die Schrift selbst, also das Schreiben der Buchstaben, spezialisiert war. Ist doch klar, werden Sie sagen… aber eigentlich ist das gar nicht so klar: außer den Schreibern, die für die Schrift selbst zuständig waren, gab es in der Schreibstube auch einige, die besonders schöne Verzierungen und Illustrationen herstellen konnten. Andere, oft die Klosterschüler, hatten die Aufgabe, in die Pergamentseiten Linien zu ritzen, damit der Schriftschreiber auch gerade schreiben konnte.
Wenn wir heutzutage etwas von Hand schreiben wollen, ist es für uns völlig normal, ein Blatt mit blütenweißem, liniertem oder kariertem Papier vor uns auf den Tisch zu legen, zum Füller oder Kuli zu greifen und einfach los zu schreiben, wann immer wir Lust dazu haben. Und wenn wir abends noch was auf dem Einkaufszettel für den nächsten Tag notieren wollen, schalten wir das Licht ein und los geht’s.
Zu Lunandus’ Zeiten war das alles etwas anders: Sein Arbeitsplatz war das sog. Scriptorium, die Schreibstube des Klosters. Der Begriff Scriptorium leitet sich von dem lat. Wort scribere ab, was einfach schreiben bedeutet. Andere wichtige Räume des Klosters tragen ebenfalls Namen, die aus dem Lateinischen kommen: Der Speisesaal z.B. hieß Refektorium, (Bild 14: Refektorium) und das Dormitorium war der Schlafsaal (Bild 15: Dormitorium), in dem alle (!) gemeinsam geschlafen haben
Man kann sich gut vorstellen, wie schwierig das Einschlafen wohl gewesen sein muss, wenn einige der Mönche laut geschnarcht haben….
Überhaupt war das Leben im Kloster nicht einfach: Aufstehen im Morgengrauen (Bild 16: Chorgebet) und den Tag (noch vor dem Frühstück) mit dem Chorgebet beginnen, das vor allem aus dem gemeinsamen Singen von Psalmen besteht. Das Chorgebet am frühen Morgen ist nicht das einzige. Jeder Tag wird von unterschiedlich langen Gebetszeiten unterbrochen. Neben einigen kürzeren sind die Laudes am Morgen, die Vesper am frühen Abend und die Complet als Abschluss des Tages die wichtigsten der sog. Stundengebete. (Schreibermönche waren meist in der Zeit, wo es Tageslicht zum Schreiben gab, von den Gebeten befreit.)
Sogar mitten in der Nacht gab es noch eine Gebetszeit, zu der man eigens aufstehen musste: die Matutin. Dass man früh ins Bett ging, um das alles zu schaffen, ist ja wohl klar. Von Herbst bis Frühling war es natürlich – wie auch heute noch, trotz Heizung - immer kalt in der Kirche. Dazu hatten sie die dicken Wollkutten, die hielten schön warm! (Bild 17: Chorgestühl)
Selbstverständlich mussten alle Mönche auch dafür sorgen, dass stets genug Nahrung für sie vorhanden war. (Bild 18: Feldarbeit)
Die Schafe, Kühe, Schweine, Hühner, Gänse und Enten, die es eigentlich in jedem Kloster gab, mussten versorgt werden. Auch die Gebäude mussten in Ordnung gehalten werden, einige Mönche hatten da richtig schwere Arbeiten zu verrichten.
Ein Schreiber wie Lunandus dagegen hatte einige Vergünstigungen. Als künstlerisch arbeitender Mensch, der natürlich auch auf seine Werkzeuge, seine Hände, aufpassen musste, war er von schweren Arbeiten befreit. Außerdem hatte er es im Winter immer warm, denn mit kalten Händen und steifen Fingern lässt es sich nicht gut schreiben. (Bild 19: Prunkseiten)
Und die kostbaren Bücher, die oft auf Bestellung für reiche Fürsten und andere Adelige angefertigt wurden, brachten den Klöstern richtig viel Geld ein.
Wie schon erwähnt, unterschied sich das Schreiben zu Lunandus’ Zeiten von unserem Vorgang heute ganz gewaltig.
Alles, was zum Schreiben eines Buches notwendig war, musste eigenhändig und oft sehr aufwendig und langwierig aus Naturmaterialien hergestellt werden:
Als erstes: Worauf sollte man schreiben??? Papier war in Europa noch nicht erfunden...
Versetzen wir uns doch einfach mal 700 Jahre zurück und werfen einen Blick in die Arnsteiner Schreibstube, wo Lunandus – damals noch ein junger Klosterschüler – fleißig am Arbeiten ist:
Sprecher B: „Mein Arm wird langsam lahm“, stöhnte der Klosterschüler Lunandus und ließ den Bimsstein auf die steinerne Tischplatte fallen. Der Stein landete neben dem Pergament, das er gerade schliff. (Bild 20: Pergament)
„Schreiber will ich werden, aber wenn das so weitergeht, kann ich vor lauter Hornhautschwielen keinen feinen Federstrich mehr führen!“, sagte er zu Bruder Marius, einem seiner Lehrer. Der ließ die Fingerspitzen prüfend über die vor ihm liegende Kalbshaut gleiten.
„Weißt du, Lunandus“, sagte er, „dass ich als Schüler in unserer Klosterschreibstube damals auch immer Pergamente schleifen musste. Das gehört wohl seit allen Zeiten dazu.
Aber, wenn du mich fragst, ist das doch immer noch besser als den ekligen Fischblasenleim zu kochen oder im Wirtschaftshof die Ochsengalle vom letzten Schlachten in den Glaskrug füllen zu müssen.“
Er erinnerte sich an den Morgen, als ausgerechnet Lunandus, der alles hasste, was übel roch, hier im Vorraum zum Skriptorium gestolpert war und das Glasgefäß mit der übelriechenden Galle fallen ließ.
Und obwohl Lunandus etliche Eimer Brunnenwasser beigeschleppt und die Steinplatten mit Schachtelhalmbüscheln geschrubbt hatte, war der Gestank der in den Ritzen versickerten Ochsengalle noch immer nicht ganz verschwunden.
Lunandus musste lachen. Er rümpfte die Nase, griff nach seinem Pergament, ging zur Eingangstür und hielt das Pergament gegen das Licht. „Man sollte es nicht glauben, dass das einmal ein Kalbsfell war“, sagte er. „Wer kam eigentlich auf die Idee, dass man darauf Bücher schreiben kann?“
Marius setzte sich auf die Eichenbank neben dem Feuer und rieb sich die kalten Finger über der Glut.
„Wer irgendwann einmal auf die Idee kam, Tierhäute zum Schreiben zu benutzen, weiß man nicht, aber die Idee ist bestimmt schon viele hundert Jahre alt. Die Völker rund um das Meer im Süden, woher die Händler auf den Schiffen kommen, also die Ägypter, die Griechen und die Vorfahren der Römer, kannten es schon lange, ebenso die Assyrer, die Hebräer und die Perser.
Sie nennen es „pergamineum“ – wir sagen heute Pergament – nach Pergamon, einer großen Stadt im byzantinischen Reich, die seit über tausend Jahren berühmt ist für ihre Pergamentherstellung. (Bild 21: Pergament im Rahmen) Der römische Geschichtsschreiber Plinius hat uns aufgeschrieben, wie es dazu kam:
So etwa 200 Jahre vor Christi Geburt lebte in der Stadt Pergamon ein mächtiger König, der hieß Eumenes. (Bild 22: Eumenes) Sein Lebenstraum war die Errichtung einer großen Bibliothek, in der alles Wissen seiner Zeit niedergeschrieben und gesammelt sein sollte. Dazu ließ er Boten aussenden, die den Auftrag hatte, in Ägypten große Mengen von Papyrusbögen (Bild 23: Papyrus) zu kaufen, auf denen man schreiben konnte. Als aber dem ägyptischen Herrscher, dem Pharao, zu Ohren kam, dass in Pergamon auch eine Bibliothek errichtet werden sollte, wurde er zornig und sprach: „Unsere weltberühmte Bibliothek in Alexandria soll keine Konkurrenz bekommen. Bei uns - und nur bei uns - soll alles Wissen der Welt aufgeschrieben und bewahrt sein.“ Und er verbot kurzerhand den Handel. Also kehrten die Bote niedergeschlagen unverrichteter Dinge wieder nach Pergamon zurück.
Sprecher A: Aber König Eumenes ließ sich nicht so leicht entmutigen. Er ließ seine Schreiber nach anderen Möglichkeiten suchen, und einige erinnerten sich, dass es ja auch noch ein von altersher bekanntes Beschreibmaterial gab, nämlich die Tierhäute. (Bild 24: Pergament)
So bekam der König doch noch seine Bibliothek, und ein großer Teil der Einwohner von Pergamon arbeitet noch heute in den Manufakturen. Im Lauf der Jahrhunderte haben sie dort natürlich immer wieder Ideen gehabt, wie sie die Häute noch besser machen konnten.
Die Tierhaut ist viel haltbarer als der ägyptische „Papyrus“, aus dem sie die Schriftrollen gemacht haben, von denen noch einige bei unserem Abt im Arbeitszimmer liegen. Ihr erinnert euch, ich habe euch vor kurzem eine gezeigt, als ich euch erzählt habe, wie man sie hergestellt hat. Erinnerst du dich noch?“
Sein Freund und Mitschüler Gero, der neben ihm stand, nickte eifrig. „Ja, Papyrus ist so eine Art Schilfgras, (Bild 25: Papyrusstaude) ähnlich wie unsere Binsen am Bach drunten. Und der Stängel ist auch innendrin nicht ganz hohl, sondern mit so einem weichen weißen Zeug gefüllt.
Der Stängel wird mehrfach längs gespalten, dann legt man die Streifen der Länge nach nebeneinander, andere quer darüber, (Bild 26: Papyrusherst.) und wenn man es dann klopft, quillt irgend etwas Klebriges aus den Pflanzenteilen heraus und verbindet alles zu einem Blatt. So ähnlich - auch mit Längs- und Querlegen - machen die Mägde daheim auf meines Vaters Hof aus gekämmter Wolle Filz für die Winterwämser. Und dann haben sie etliche dieser Blätter mit den Rändern aneinandergeklebt, immer eines unter das andere, bis sie eine ganz dicke Rolle hatten, und die wurde dann beschrieben. Wenn du mich fragst, eine umständliche Angelegenheit, das Ganze dann beim Lesen ständig hin und her zu rollen. Da finde ich das Zusammenbinden zu einem Buch, (Bild 27: Buchbinden) das man umblättern kann, wie es Bruder Andreas mit euren Schriftblättern und Bildern macht, doch besser.“
„Ich auch“, bestätigte Marius, „und irgendwann ging man dazu über, statt Schriftrolle das aus Einzelblättern gebundene Buch, für umfangreichere Texte zu verwenden. Und Pergament hält viel länger als Papyrus. Wir benutzen hier in unserem Skriptorium Kälberfelle, aber die Häute von Ziegen und Schafen, ja sogar Eseln, eignen sich auch.“
Jetzt fragte Lunandus: „Wie kommt es denn, dass die Häute nicht verderben und nicht stinken?“
„Ganz einfach, wenn man die Arbeitsweise kennt. Die Haut wird für mehrere Tage in Wasser eingelegt, das man mit Kalk vermischt hat, und anschließend in einen Holzrahmen eingespannt. Dann werden von beiden Seiten Haare, Fett- und Hautreste abgeschabt. (Bild 28: Pergamentschaben) Nach dem Trocknen muss das Pergament noch mit Bimsstein geschliffen werden und ist dann beschreibfähig.
Zuweilen werden die Blätter für besonders kostbare Bücher auch kunstvoll eingefärbt, z.B. purpurrot, safrangelb oder schwarz, und dann mit Gold- oder Silbertinte beschrieben. (Bild 29: Purpurpergament)
Bruder Johannes weiß Rezepte für Gold- und Silbertinten, die auf farbigem Pergament besonders schön aussehen, - frag ihn gelegentlich danach. Vielleicht schreibst du ja selbst irgendwann Worte aus der Heiligen Schrift mit Goldtinte auf Purpurpergament.“
Aber jetzt ist es nötig, erst einmal ganz gewöhnliche Tinte zu kochen, unsere Vorräte sind fast zu Ende...“ Also hängt bitte morgen früh die Schlehdornäste hier oben am Balken ab, die sind jetzt gut trocken, und klopft die Rinde ab.
Sprecher B: Am nächsten Morgen (Bild 30: Schlehdorn) holte Lunandus einige Bündel von getrockneten Schlehdornästen und beförderte sie mit Schwung auf den steinernen Arbeitstisch. Dann schnitt er mit seinem Messerchen, das eigentlich zum Korrigieren von Fehlern auf dem Pergament gedacht war, geschickt die Flachskordeln durch und breitete die Äste auf der Steinplatte aus.
Mit dem Holzhammer klopfte er geduldig auf die Äste los. Es dauerte eine Weile, bis sich die ersten Rindenstückchen lösten, aber dann wurden es immer mehr. Lunandus schob mit einem Stock die Äste an die Wand und fegte die Rindenstückchen vorsichtig mit dem Heidekrautbesen zu einem Häufchen zusammen. Er musste dabei den Atem anhalten, damit die feinen Häutchen nicht davonflogen. Vorsichtig schob er seine Beute auf ein flaches Eisenschäufelchen, deckte eine Hand darüber und trug sie zur Feuerstelle, wo er inzwischen ein dreibeiniges Tongefäß mit Wasser gefüllt und an den Rand der Glut gestellt hatte. Mit immer noch angehaltenem Atem ließ er die Rindenstückchen ins Wasser gleiten. Der Mönch Johannes war inzwischen hereingekommen und sah ihm zu.
Gleich fragte ihn Lunandus: „Wie wird denn nun aus der Rindenbrühe Tinte? Was ich hier rühre, ist doch überhaupt nicht schwarz, eher hellbraun und ganz durchsichtig. Kommt da noch was rein?“
„Ja, Lunandus, da kommt tatsächlich „noch was rein“. (Bild 31: Eichengalläpfel) Eure nächste Arbeit wird sein, die Eichengalläpfel in dem Säckchen da oben im Mörser zu feinem Pulver zu zerreiben. Dann gebt ihr zwei von diesem Messbecherchen voll in einen sauberen Topf, dazu einen Messbecher Eisenvitriol und einen Messbecher von dem Pflaumenharz aus dem Glasgefäß da drüben. Aber bitte das Glas wieder gut verschließen - und ich möchte sehen, dass der Messbecher anschließend wieder blitzsauber geputzt ist. Wenn ihr soweit seid, ruft mich bitte, den Rest mache ich lieber selbst, damit die Ochsengalle nicht wieder runterfällt.“
Lunandus nickte, und Gero zeigte zugleich vorwurfsvoll auf den inzwischen dampfenden Topf mit der Schlehdornrinde. „Du hast uns immer noch nicht gesagt, wozu du diese Brühe brauchst.“
„Die kommt zum Schluss noch an unsere Tinte, damit sie schön goldbraun wird, aber erst müssen da noch mehr Rindenstückchen hinein, etwa noch die dreifache Menge. Und achtet darauf, dass das Wasser nicht überkocht, es reicht, wenn alles leise vor sich hinbrodelt. Wenn die Tinte fertig ist und gut geworden ist, bekommt ihr ein Stückchen Pergament, dann gibt es heute Abend noch eine Unterrichtsstunde zum Thema Schreiben.“ Johannes griff sich noch eine seiner kunstvoll zugeschnittenen Gänsefedern (Bild 32: Federn) und verschwand mit einem freundlichen Nicken im Skriptorium. Seit den Harry-Potter-Filmen kennen wir das ja auch wieder...
Sprecher A: Nach dem Abendessen liefen Lunandus und Gero zum Brunnen und wuschen sich Gesicht und Hände. Gero hatte es geschafft, den Honig vom linken Mundwinkel bis zum rechten Ohr zu veteilen. Bruder Johannes sollte schließlich zwei blitzsaubere Zuhörer haben, wenn er sich schon die Zeit nahm für eine Unterrichtsstunde außer der Reihe...
Johannes hielt sein Versprechen. Er saß schon im Vorraum des Skriptoriums auf der Holzbank am Kaminfeuer, das auf dem Boden brannte, als die beiden ankamen. Sie zogen sich zwei Schemel heran, setzten sich möglichst nahe an die Glut und schauten erwartungsvoll zu dem jungen Mönch hoch. (Bild 33: Marktplatz)
Der begann zu erzählen: Ihr müsst euch jetzt erst einmal etwa 3000 Jahre zurückdenken. Dann stellt Euch einen Marktplatz in einer Stadt vor, einer Stadt weit im Osten im Zweistromland. Heiß ist es dort, sogar sehr heiß, und die Marktstände brauchen ihre Planen gegen die sengende Sonne, und nicht gegen den Regen wie oft hier bei uns.
(Bild 34: Schreiber) Unter einem Stoffsegel kauert im Schatten ein Schreiber, vor ihm sitzt sein Kunde, ein reicher Kaufmann und diktiert ihm einen Geschäftsbrief.
Sonderbarerweise hat der Schreiber weder Feder noch Papyrus, auch keine Tinte und kein Pergament. Nein, er hält in der einen Hand ein flaches Holzbrettchen mit einem flachgedrückten Tonfladen, in der anderen ein Holzstäbchen. Geschickt dreht und wendet er das Stäbchen, während er es immer wieder in den noch weichen feuchten Ton eindrückt. Keilförmige Eindrücke entstehen, längs und quer.
Und da die Schrift aussieht, als sei sie aus lauter kleinen Keilen zusammengesetzt, nennt man sie „Keilschrift“. (Bild 35: Keilschrift 2) Ursprünglich ist sie – wie wohl alle Schriften – aus Bildern entstanden, mit denen sich die Menschen schon seit ganz früher Zeit Nachrichten zukommen ließen. Auch in Ägypten, benutzte man eine Schrift, die so entstanden ist. Wir nennen sie Hieroglyphen.(Bild 36: Hieroglyphen)
Und unsere Schrift, die wir hier und heute schreiben, haben wir wohl auch aus der Gegend um das Meer im Süden von dem Volk der Purpurhändler, auch Phönizier genannt, „geerbt“. Sie hat sich im Laufe von etwa 3000 Jahren langsam vom Zweistromland um die große alte Stadt Babylon – ihr kennt sie aus der Heiligen Schrift – über Griechenland und das Römische Reich bis zu uns hier ausgebreitet.
So, und hier habt ihr jetzt das versprochene Stück Pergament, lasst Euch mal was einfallen, um ein großes A mit schönen Ranken zu entwerfen. Und morgen gibt es Arbeit ...“
Und während Lunandus und Gero heftig diskutieren, welche Ornamente am besten zu dem A passen, nutzen wir die Zeit für eine Pause, damit Sie Ihre Gläser nachfüllen lassen und noch ein Brötchen essen können – und vielleicht lässt sich ja auch der Vollmond blicken...
PAUSE
„Bringt sie hierher und setzt sie vorsichtig neben die anderen – bitte ganz vorsichtig, der Inhalt ist sehr empfindlich!“
Bruder Andreas hielt Lunandus und seinem Freund Gero, dem zweiten Klosterschüler, die Tür zum Vorraum des Skriptoriums auf. Die beiden schleppten eine schwere Holzkiste herein und setzten sie behutsam an der Wand neben der Feuerstelle ab. Zwei weitere Kisten waren dort bereits abgestellt.
Ein stabiler Holzdeckel – vorher fest angenagelt, aber inzwischen abgelöst – deckte den Inhalt ab, und als Andreas ihn vorsichtig abhob, kam eine Lage von trockenem Heu und Stroh zum Vorschein. Unter den neugierigen Blicken von Lunandus und Gero entfernte er die obere Schicht der Halme, bis die Verschlüsse einiger Glas- und Keramikgefäße sichtbar wurden.
„Gut, dass die Händler endlich kamen“, sagte er und grub behutsam eine bauchige Glasflasche mit weitem Hals, dicht mit einem wachsgetränkten Leinenstück verschlossen, aus ihrem Strohbett. „Unser Lapisblau ging schon zur Neige.“
Er trug das Glasgefäß, durch dessen Wand es wunderbar blau schimmerte, hinüber zum Arbeitstisch, dicht gefolgt von den beiden Klosterschülern. (Bild 38: Lapislazuli) Geschickt schnitt er die Kordel durch, die das Wachstuch über der Öffnung festhielt und entfernte beides. Lunandus besah fasziniert das leuchtend blaue Pulver. „Wunderbar, dieses Blau. So sieht manchmal der Himmel über der Lahn aus, wenn die Sonne untergeht. Lapislazuli ist wirklich ein Edelstein, der seinesgleichen sucht. Nur schade, dass man ihn hier bei uns nicht findet. Kein Wunder, dass die Händler ihn sich in Gold aufwiegen lassen.“
Andreas lachte. „Von wegen „mit Gold aufwiegen lassen“! Gold ist wesentlich billiger als dieses tiefdunkle Blau, lieber Lunandus, für das Goldgewicht bekommst du höchstens ein helles Blaugrau“, mischte sich nun Johannes in das Gespräch, der damit beschäftigt war, den Inhalt einer weiteren Kiste in den Wandschränken zu verstauen.
„Das Lapispulver in diesem Blauton hier ist das teuerste, das man überhaupt kaufen kann. Es hat etwa den fünffachen Goldwert. Der Händler sagt, die Erzeuger nennen es „Das nächtliche Himmelsgewölbe kam zur Erde herab“. In Ägypten war Lapislazuli der Stein der Herrscher, der Pharaonen, und wurde ihnen auch nach ihrem Tode – meist in Gold gefasst – für die Reise ins Jenseits als Schmuck mit ins Grab gegeben (Kleopatra soll ihn übrigens als Lidschatten verwendet haben, und Michelangelo hat ihn etwa 700 Jahre später als Himmelblau an der Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom aufgetragen).“
Sprecher A: (Bild 39: Lapis/Himalaya) „Ist es eigentlich wahr, Johannes, dass es von Ägypten bis zu den Lapislazuli-Bergwerken noch einmal fast genau so weit ist wie bis zu uns hier?“ wollte Gero nun wissen. „Fast, Gero, und dazu ist der Weg von dort sehr beschwerlich. Die Bergwerke liegen nämlich in einem riesigen Gebirge, Himalaya nennen es die Bewohner in ihrer Sprache, das bedeutet Heimat des Schnees. Bei uns sieht man ja im Winter meist nur einige Flocken davon, die meist gleich wieder schmelzen, aber dort gibt es soviel Schnee, dass er drei Viertel des Jahres etliche Fuß hoch liegt. (Bild 40: Himalaya)
Wenn der Stein in den Stollen aus dem Fels gebrochen – bei blakendem Fackellicht – und ans Tageslicht gebracht ist, muss er auf gefahrvollen Bergpfaden in bewohnte Gebiete transportiert werden. Und anschließend kommt noch ein langwieriger Arbeitsprozess, bis daraus das Lazurpulver wird, das ihr hier seht: Die Steinbrocken müssen kleingeschlagen werden, damit man alle Einschlüsse, die nicht den Farbstoff enthalten (Kieselsäure und Schwefelkies), heraus sammeln und wegwerfen kann. Der Rest wird in Feuerschalen erhitzt und dann mit kaltem Wasser übergossen, damit er leichter zerfällt. In Hartsteinmörsern, ähnlich wie unserer hier auf dem Boden, zerreibt man ihn anschließend zu feinstem Pulver.“
„Aha, so wie das da im Glas...“, unterbrach ihn Gero, aber Andreas schüttelte den Kopf. (Bild 41: Harzkugel) „Nein, das wäre ja zu einfach, bis zu unserem Pigment hier ist es noch ein langer Weg. Das Pulver aus dem Mörser wird erst einmal in erwärmtes Harz eingeknetet, bis eine weiche blaue Kugel entstanden ist.
Wenn ihr jetzt dort arbeiten würdest, hättest du, Gero, eine Wasserkanne in der Hand und ließest das Wasser in einem dünnen Strahl über die Harz-Lapis-Kugel laufen, die Lunandus ununterbrochen durchknetet.“
„Aber dann läuft doch das Farbpulver weg – nein, sie stellen bestimmt eine Schale zum Auffangen darunter.“ Gero war voll Begeisterung bei der Sache.
„Natürlich fangen sie das Wasser mit den Pigmenten auf“, bestätigte Andreas „und damit sie nun noch einmal Farbstaub von Steinstaub trennen können, versetzen sie das Wasser mit Seifenkraut in einem Leinensäckchen und rühren – wohl mit einem kleinen Besen – solange, bis sich auf dem Wasser Schaum bildet. Das feine Lasurblau setzt sich in die Schaumschicht und kann leicht abgehoben und getrocknet werden, der Steinstaub sinkt auf den Grund. Der Vorgang wird noch mehrmals wiederholt, aber die Pigmente, die nach dem ersten Aufschäumen abgehoben werden, sind die schönsten – und natürlich auch die teuersten. (Bild 42: Ochsen) Und dann wird die kostbare Fracht mit Ochsen auf unwegsamen Bergstrecken in die Ebene transportiert, hernach durch Wüsten, monatelang dauert die Reise allein, bis erst einmal das Mediterrane Meer erreicht ist...“
Sprecher B: „Ist das nicht wahnsinnig gefährlich, wenn man so kostbare Dinge geladen hat?“ unterbrach Gero, „Es könnten doch Räuber kommen und so einen langsamen Ochsenkarren überfallen, die Männer töten und die Edelsteine stehlen.“
„Das kommt sogar sehr oft vor“, mischte sich jetzt Johannes ein, der damit beschäftigt war, den Inhalt einer weiteren Kiste auszupacken und in einer Truhe an der Wand zu verstauen. (Bild 43: Karawane) „Deshalb warten die Händler auch häufig in den Rasthäusern an den Handelsstraßen und schließen sich gegen ein Entgelt einer Karawane an, die von schwer bewaffneten Soldaten begleitet wird, das ist sicherer.“
„Hach, das würde ich auch gern machen“, rief Gero mit leuchtenden Augen, „auf einem schnellen Pferd aus meines Vaters Ställen eine Handelskarawane mit Gold und Edelsteinen bewachen und alle Räuber erschlagen oder in die Wüste jagen!“
Hier muss ich vielleicht erklären, dass Gero nicht im Kloster ist, um Mönch zu werden. Nein, sein Vater, ein Graf aus dem Einrich, hat ihn nach Arnstein geschickt, damit er sich etwas Bildung aneignet und seine Manieren bessert. (Bild 44: Klosterschule) Selten sieht man ihn ohne sein vergnügtes Grinsen quer über dem sommersprossigen Gesicht. Sein sonniges Gemüt und seine immer fröhliche Natur helfen ihm über manchen Misserfolg hinweg. „Außerdem werde ich ja kein Mönch, sondern will später die Krieger meines Vaters anführen“. Mit diesem Spruch tröstet sich Gero und seine Lehrer, wenn er mal wieder vergeblich mit einem lateinischen Text und seiner Gänsefeder kämpft.
Johannes stellte das Glas mit seinem leuchtendblauen Inhalt vorsichtig ins Wandregal und entnahm etwas einem kleinen Kästchen. (Bild 45: Purpurschnecken) Er hielt ihnen seine ausgestreckte Hand entgegen: „Schaut mal hier, die Schneckenhäuser, da waren ganz besondere Tiere drin, Purpurschnecken. Ich denke, wir werden bis dahin mit dem Auspacken fertig sein und dann erzähle ich euch etwas von den Wunderschnecken, aus deren Mäulern der kostbare Purpurfarbstoff kommt – und wie die Menschen ihn entdeckt haben.“
Sprecher A: Dann wurde es aber doch zu spät, so dass die Purpurschnecken-Lektion doch auf den nächsten Tag verschoben werden musste. „Das sollte man doch gar nicht glauben, dass die Spucke von so einem hässlichen Schneckentier so eine schöne und teure Farbe produzieren kann!“
Gero betrachtete kritisch eines der beiden weißgrauen stacheligen Schneckenhäuser, die Johannes ihm und Lunandus gerade in die Hand gedrückt hatte. Einer der Händler, die mit ihren Handelsschiffen vor einigen Wochen Nachschub an Pigmenten und Bindemitteln geliefert hatten, hatte einige davon mitgebracht.
„Wie schön die Spucke von deinem hässlichen Schneckentier tatsächlich ist, wirst Du gleich sehen.“ Johannes griff nach der eisernen Gabel mit dem Holzstiel, die benutzt wurde, um alles mögliche, das an Wänden und Decken hing, herunter zu holen, und fischte damit eine der ledernen Büchertaschen vom Haken an der Decke. Alle kostbaren Bücher, die kopiert werden sollten, waren dort sicherheitshalber frei hängend verwahrt, damit Ratten und Mäuse sie nicht erreichen konnten.
Er legte die Tasche auf den Steintisch und zog vorsichtig den in eine Hülle aus dünnem Leder gewickelten Codex heraus. Nachdem er das Leder entfernt hatte und auch eine zweite Hülle – diesmal aus Leinen – konnte er die beiden Bronzebuchschließen lösen und den Codex öffnen. (Bild 46: Purpurpergament) Auf tiefviolettem Pergament schimmerten goldene Buchstaben und ein Kranz von feinsten Ornamenten. „Und das ist Schneckenspucke? Toll!“ Geros Zeigefingerspitze war schon fast auf der Seite, als Johannes ihm blitzschnell eine Ohrfeige verpasste. „Wirst du wohl deine schmutzigen Pfoten von dem heiligen Buch lassen!“
Schuldbewusst versteckte Gero die tatsächlich nicht übermäßig saubere Rechte hinter dem Rücken – die Linke sicherheitshalber gleich mit.
Lunandus konnte den Blick nicht von den Seiten lösen. „Das möchte ich auch irgendwann später machen, solche Bücher schreiben.“ Gero war schon wieder keck geworden. „Das ist doch langweilig, Lunandus! Viel spannender ist es doch, den Schnecken die Spucke zu entlocken und dann damit was zu färben, einen Festmantel vielleicht. Mein Vater hat mir erzählt, dass die Kaiser in Rom so was haben, die anderen dürfen nicht, höchstens seine ganz hohen Beamten, aber nur einen kleinen Streifen oder so.“
Johannes lachte. „Ja, das ist tatsächlich interessant, wie der Farbstoff gewonnen wird, ich werde euch was darüber erzählen. Aber dazu sollten wir uns ans Feuer setzen, dann könnt ihr gleich die Harzbrocken in den Grapen (Dreibeingefäße aus Ton, die man in die Glut stellen kann) umrühren, damit sie sich schneller auflösen.“
Sprecher B: Als beide mit je einem Lammrippenknochen bewaffnet auf den kleinen Hockern neben dem Holzfeuer saßen und eifrig rührten, begann er: (Bild 47: Purpurschnecken) „Der Schneckenpurpur ist wohl der berühmteste und kostbarste Farbstoff, den wir haben. Schon vor weit mehr als tausend Jahren vor der Geburt unseres Herrn gab es am Mittelmeer große Manufakturen, die die Purpurschnecken einsammelten und daraus Farbstoffe gewannen. (Bild 48: Tyros/Phönizien) Ich habe euch schon von den Phöniziern, dem großen Seefahrervolk erzählt – ihr Name bedeutet übersetzt die „Purpurhändler“ und ihr Reich nannten sie das „Purpurreich“. Der Prophet Ezechiel berichtet schon in der Bibel, dass die alte phönizische Handelsstadt Tyrus durch den Purpur reich und mächtig wurde (Bild 49: viele Purpurschnecken) (Inzwischen hat man mehrere hundert Meter lange und bis zu 10 m dicke Muschelschalenhalden ausgegraben! Die Schnecken waren alle an der gleichen Stelle des Gehäuses – offenbar mit einem spitzen Werkzeug – genau an der Stelle aufgebrochen, wo die Purpurdrüse liegt. In Tarent – heute Otranto – in Italien, gibt es einen Hügel, den Monte Testaccio, der nur aus den Gehäusen von Purpurschnecken besteht).
Die geschäftstüchtigen Phönizier spürten an allen ihnen zugänglichen Meeresküsten die Fangplätze für Purpurschnecken auf und errichteten dort ihre Färbereien und Handelshäuser. (Bild 50: Purpurpigment) Zu der Zeit, da Jesus Christus lebte, zahlte man für eine Mine, also ca. 500 g, Purpurpigment aus Tyrus die stolze Summe von 1000 Denarien“ (Ein Denar entspricht etwa dem Tageseinkommen eines damaligen Arbeiters oder Handwerkers)
„Und heute ist der Purpur auch nicht billiger – und den langen Transport lassen sie sich auch noch vergolden!“ Das war der Kommentar von Marius, der gerade aus der Kirche in den Vorraum gekommen war und jetzt aus einer der Truhen ein Holzkästchen entnahm.
„Aber jetzt wissen wir immer noch nicht, wie der Farbstoff gewonnen wird. Ist das auch so viel Arbeit wie bei dem Lapisblau?“ „Der Geruch ist jedenfalls viel schlimmer, Lunandus.“ Marius zog sich einen Schemel heran und setzte sich zu der Gruppe ans Feuer.
„Es gibt mehrere Methoden“, sagte Johannes lachend. „Eine häufige Art der Farbgewinnung ging so: Die Schnecken werden mit einem Werkzeug, das wie eine gebogene Gabel aussieht, aus den Häuschen geholt. Dann schneidet man die Farbdrüsen heraus, legt sie in große Tontöpfe und streut Salz darüber (auf ca. 70 kg Drüsen etwa 1 kg Salz). Drei Tage musste der Brei stehen, dabei wurde er immer wieder umgerührt.“
„Pfui Teufel, muss das gestunken haben! Stell dir vor, Lunandus, wir müssten das hier bei uns machen – grauslich!“ Gero schüttelte sich.
„Es wird noch übler, Gero“, fuhr John fort, jetzt wird der Brei nämlich in riesige bleierne Kochwannen mit Wasser geschüttet (ca. drei Zentner Drüsenbrei in 2600 l Wasser) und für zehn Tage vorsichtig über kleinem Feuer warmgehalten. Das Ganze darf nicht zu heiß werden, sonst wird die Farbe zerstört. Die Fleischfasern und sonstigen Fremdstoffe steigen an die Oberfläche und werden alle paar Stunden abgeschöpft. Dann ist die Farbbrühe fertig und du kannst darin jetzt entweder direkt Stoffe, Garne oder Pergamente färben oder die Purpurpigmente in einer aufwendigen Prozedur aus dem Farbwasser gewinnen und verkaufen.
(Bild 51: Purpurstoffe) Eine andere Methode wird auch angewandt. Sie lässt die Schnecken am Leben und verhindert so, dass sie irgendwann an einem Platz ganz ausgestorben sind: Die Fischer sammeln die Schnecken eine nach der anderen von den Felsen unter der Meeresoberfläche, heben sie an die Luft und blasen darauf ...“ Gero unterbrach ihn: „So wie ich manchmal unten am Bach bei den roten Schnecken, dann ziehen sie die Hörner ein.“
(Bild 52: Schneckendrüse mit Sekret) „Ja, aber die Purpurschnecke zieht nicht die Hörner ein, sondern gibt weißliche schäumende Spucketropfen von sich. Die Fischer drücken die Flüssigkeit auf ein Stück Leinenstoff, setzen die Schnecke wieder auf ihren Felsen, nehmen die nächste Schnecke, drücken den nächsten Tropfen auf den Stoff und so weiter, bis das Tuch völlig mit der Flüssigkeit durchtränkt ist. Zuhause werden die Farbstoffe dann aus dem Tuch gewaschen – um es einfach auszudrücken. In Wirklichkeit ist es eine lange und komplizierte Angelegenheit.
Sprecher A: Aber nun will ich euch zum Schluss noch die kleine Geschichte erzählen, wie die Menschen angeblich die Purpurfarbe entdeckt haben:
Vor langer Zeit ging ein Mann bei Ebbe mit seinem Hund am Meeresstrand spazieren. Der Hund lief, wie es so Hundeart ist, weit voraus und sein Herr sah, wie er etwas aufstöberte, es in die Schnauze nahm und zerbiss. Als das Tier zurückkam, erkannte der Mann, dass es ein Schneckenhaus im Maul trug und das weiße Fell um die die Schnauze rot gefärbt war. Der Mann dachte zuerst, sein Hund habe sich an den scharfen Bruchkanten des Gehäuses die Lefzen aufgeschnitten, aber dann stellte er fest, dass die Schnauze keine Verletzungen aufwies. Außerdem zeigte sich bei genauerem Hinsehen, dass die Farbflecken zwar rot waren, aber keineswegs blutrot. Sie sahen eher wie Rotwein- oder Beerenflecken aus. (Bild 53: Finger mit Purpurspur) Also betrachtete er sich das Schneckenhaus samt Inhalt näher und fand dann heraus, dass die Flüssigkeit, die aus der Schnecke quoll, auch seine Fingerspitzen lilarot eingefärbt hatte. Da begriff der Mann dass diese Art von Meeresschnecken einen Farbstoff absondern konnte – und so wurde nach vielem Herumexperimentieren die Purpurfärberei entdeckt.“
„Danke, Johannes, für die schöne Geschichte“, sagte Marius, „und nun haben unsere zwei hier vor lauter Zuhören das Rühren vergessen – und wenn nicht bald einer Holz nachlegt, geht das Feuer aus. (Bild 54: Feuerstelle) Also los, tut mal was! Aber vorher dürft ihr sicher noch einmal schnell in das Buch mit den Purpurseiten schauen, bevor Johannes es wieder an seinen Platz hängt.“(Bild 55: Purpurseite) Marius stand auf, klemmte sein Holzkästchen unter den Arm und ging. Aber an der Tür drehte er sich noch einmal um und schaute Lunandus an. „Ich bin sicher, spätestens in zehn Jahren wird unser Kloster auch solch eine kostbare Bibel bekommen und der Schreiber wird Lunandus von Arnstein sein.“ (Bild 56: "N")
Gaby: Ja, liebe Gäste, nun kommen wir vom Jahr 1160 wieder in die Gegenwart. Ich hoffe, unsere Geschichten haben Ihnen Spaß gemacht und auch ein bisschen Einblick in die Welt der Klosterschreibstuben gegeben. …
ENDE
Personen, die in der Geschichte vorkommen:
Lunandus, Klosterschüler
Gero, Kumpel von Lunandus
Marius, Schreiber u. Lehrer
Andreas, Schreiber u. Lehrer
Johannes, Illustrator u. Lehrer