Ostern 2020
Liebe Freunde,

Wir befinden uns in einer Situation - und das macht es so schwer -, in der sich Worte als völlig unzureichend erweisen. Und dennoch, trotz aller Unvollständigkeit und Fragmentierung, haben wir die Pflicht, diese untereinander auszutauschen, weil das Fragment uns immer auf etwas Erreichtes hinweist, das uns zwar nicht gehört, von dem wir aber wissen, dass es existiert.

Das erste spontane Wort, das mir in den Sinn kommt, ist "Zerbrechlichkeit". Wenige Male, wie heute, wird sich sogar unsere westliche Welt, die einem unsichtbaren Feind gegenübersteht, ihrer Vergänglichkeit bewusst. Ich sage "auch unserer westlichen Welt", weil in vielen anderen Regionen der Welt das Bewusstsein, dass Grenzen das Schicksal des Menschen kennzeichnen, tägliches Brot ist. Malaria zum Beispiel - eine bekannte und kontrollierbare Krankheit - fordert unerklärlicherweise und unter dem gleichgültigen Blick der Weltbevölkerung, fast eine halbe Million Opfer pro Jahr; 92% dieser Opfer sterben in Afrika, 60% der Todesopfer sind Kinder unter fünf Jahren. Die Wiederentdeckung der Vergänglichkeit ist das Prinzip der Weisheit, und glaubt mir, in einem so heiklen Moment geht es mir nicht um Zynismus, sondern um Hoffnung: Arroganz und Anmaßungen regeln nicht länger unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern die Versöhnung mit unserer extremen Zerbrechlichkeit. Ich vertraue nicht darauf, dass in unserer westlichen Welt dieses Grundprinzip der Weisheit nach dieser gewaltigen Krise erreicht wird, aber vielleicht werden wir Gläubigen gebeten, dies zu bezeugen.

Das zweite Wort, das aus mir herausströmt, ist: "Warum?". Wie Israel in der Zeit der Vertreibung so fragen auch wir uns: "Warum?". Ich denke an die letzten Worte des Gekreuzigten bei Markus und Matthäus: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?". Warum so ein grausamer Tod für so viele Menschen, ohne eine Liebkosung, ohne ein Wort, ohne eine Träne von geliebten Menschen? Und warum gerade die Wehrlosesten, die Schwächsten: die Alten, die Kranken ... all diejenigen, die in den Psalmen unablässig unter die schützenden Flügel des JHWH genommen werden, derjenige, der sich um sie kümmert und sie beschützt ... Wieder wird das Wort Gottes anhand von Fakten zur Lüge. Besonders in dieser Zeit habe ich oft an den Roman des französisch-algerischen Schriftstellers Albert Camus - Die Pest - und an die Ungläubigkeit von Doktor Rieux angesichts unschuldigen Leidens gedacht; Ich dachte an den Zeigefinger, der zum Himmel deutet: "Siehst Du, er schweigt!". Es ist wahr, dass Gott oft schweigt, weil die Menschen - mit ihrer Arroganz und ihrem Zynismus - ihn zum Schweigen gebracht haben, aber dies kann nicht der einzige Grund für das Schweigen Gottes sein, besonders in einer Zeit, in der jegliche Sicherheit aller Menschen von einem unsichtbaren Virus zunichte gemacht wird. Es gibt Momente im Leben, in denen die Schwachheit der menschlichen Natur besonders deutlich wird, in denen wir erkennen, dass es wichtigere Dinge gibt als unseren billigen Trost, unsere spirituellen Gärten, als sich selbst zu verwirklichen und zu bejahen. Wir befinden uns in einem Moment, in dem wir uns bewusstwerden, dass unsere Utopien uns nicht vor Einsamkeit und Tod retten können. ... Aber genau aus diesem Grund - gerade weil die Situation so trostlos, absurd, verzweifelt geworden ist - genau deshalb brauchen wir eine Präsenz. Wir brauchen einen Freund mehr in Zeiten von Ohnmacht als in Zeiten der Allmacht. Wie in kritischen Momenten, wie zu Zeiten des israelischen Exils in Babylon, in dieser verzweifelten Einsamkeit, die sich in unseren Städten und unseren Häusern ausbreitet, sind wir vielleicht aufgerufen, das Bild, das wir von Gott und den Menschen haben, zu überdenken.

Zuallererst sollten wir das Bild Gottes überdenken. Wir haben uns immer den "allmächtigen" Gott vorgestellt, Spender des Wohlbefindens und der Wunder, und wir haben ihn in den Heiligtümern, in den Riten, bei den Geistlichen in den Kirchen gesucht ... Heute, in diesem entscheidenden Moment, sind wir ohne die offiziellen Vermittler, ohne Messen, ohne Kirchen und ohne Wunder. Daher die Frage: Sind wir nicht aufgerufen, die Grundlage des Glaubens wiederzuentdecken, oder, wenn ihr wollt, das zu suchen, was jenseits der Zeichen ist, das was darüber hinaus geht? Ich sage nicht, dass wir ohne Zeichen leben können; Ich sage, dass wir, fasziniert von der Sichtbarkeit, der Einzigartigkeit und den Followern, das Risiko eingehen, den Blick auf das Wesentliche zu verlieren; das Wesentliche, ohne das unsere Wallfahrtskirchen, Pilgerfahrten und Geistlichen zu tönenden Posaunen und klingenden Zimbeln werden. Sind wir nicht berufen, "das Wort" wiederzuentdecken? Sind wir nicht berufen, Gott im Menschen und vor allem im gekreuzigten Menschen zu begegnen? Es gibt keine heilige Welt und keine profane Welt: Was von Gott kommt, existiert nur in profanen Dingen. Ich denke, es ist kein Zufall, dass, als Jesus stirbt, der Schleier des Tempels zerreißt und ein Heide "der ihn so sterben sieht" Jesus als "Sohn Gottes" preist. Der Tempel ist nicht länger der Ort des Zugangs zu Gott (weder der von Jerusalem noch der der vielen Garizim, die auf der ganzen Welt verstreut sind), sondern der Gekreuzigte und die Gekreuzigten: "Ich hatte Hunger und ihr habt mir etwas zu essen gegeben, ich war krank und ihr seid gekommen, um mich zu besuchen ... “.

Mit dem Bild Gottes ist es auch notwendig, das Bild des Menschen und aller Geschöpfe zu überdenken. Es fiel mir auf, wie zur Zeit und in dieser Welt, die so miteinander verbunden ist, in der wir unterschiedslos dem Leben oder dem Tod geweiht sind, gesagt wurde, dass die Wiederherstellung der "Distanz" von grundlegender Bedeutung ist (mindestens einen Meter, sagen sie uns!).

Zum Zeitpunkt als das Virus in unseren italienischen Alltag hereinbrach, bot ich gerade einen Kurs an der Päpstliche Universität Gregoriana in Rom zum Thema  Antlitz, Offenbarung und Mysterium an und sprach darüber, wie man in Gemeinschaft leben kann, in dem man Distanz respektiert und zulässt. Es ist offensichtlich, dass  Distanz nicht gleichbedeutend ist mit Distanziertheit. Das Buch Exodus sagt, dass Gott zu seinem Volk herabsteigt, aber das Volk muss auf Distanz bleiben; sogar Moses, der Diener schlechthin und obwohl er der Vertraute Gottes ist, muss auf Distanz bleiben. Gemeinschaft ist keine Symbiose oder Bündelung, sondern eine dialogische Beziehung. Die Frau wird in Genesis dargestellt als jemand, die dem Mann gegenübersteht, zum einen weil der Mensch dazu bestimmt ist, den Sinn "seines" Lebens nur in dem Gesprächspartner zu finden, der Fragen stellt und in Frage stellt, zum anderen, weil der andere, das Gegenüber, wirklich ein "Du" ist, das weder gefangen genommen noch getötet werden kann. Die Versuchung des Menschen ist immer dieselbe: den anderen einzuverleiben, anstatt anzuerkennen, dass der andere bereits vor jeder Initiative und jeder Machtausübung meinerseits existiert. Das Anerkennen von Distanz ist daher wichtiger als Empathie und unmittelbarer Kontakt. Die Dichterin Candiani schrieb einmal: "Wir fühlen unseren Körper nicht und wie können wir den des anderen fühlen; wir fühlen nicht einmal, wenn er neben uns zittert, wenn er Angst hat, wenn er sich beleidigt und verletzt fühlt. Vielleicht lehrt es uns die Distanz von einem Meter?"

Alles, was bisher gesagt wurde, gilt auch für die Schöpfung und jede andere Kreatur. Leider haben mehrere Faktoren, die die jüdisch-christliche Kultur ausmachen, dazu beigetragen, dass die "Unterwerfung" und "Herrschaft" über jedes Lebewesen in Genesis auf fundamentalistische und kriminelle Weise interpretiert wurde. Wir stehen an einem Punkt, an dem es keine Rückkehr gibt. Wir müssen uns vor Gott und den zukünftigen Kindern dieser Erde verantworten. Ich hoffe, dass die Ausbreitung dieses Virus, dem die Situation unseres Landes sicherlich nicht fremd ist, uns alle zu einem fruchtbaren Umdenken führen wird.

Die Woche der Passion-Tod-Auferstehung des Menschensohnes steht unmittelbar bevor. Die Ereignisse am Kreuz bedeuten für uns, dass Niederlage, Einsamkeit und sogar die Sünden des Menschen jetzt Gott gehören und in das Geheimnis der Erlösung aufgenommen werden. Der Karsamstag vor Ostern- wie die östliche Tradition ihn nennt - ist ein Tag der Stille: der Tag des stillen und verlassenen Grabes. Eine alte Karsamstagspredigt, die Epifanio zugeschrieben wird, sagt: "Heute herrscht auf der Erde große Stille, große Stille und Einsamkeit." Es ist die Stille einer weiteren Entäußerung/Kenosis, die die byzantinische Liturgie noch am Morgen des Karsamstags besingt: "Du bist herabgekommen, um nach Adam zu suchen, und nachdem du ihn nicht auf Erden gefunden hast, Herr, bist du in die Unterwelt hinabgestiegen, um ihn zu suchen!" Und wieder eine alte syrische Predigt sagt: "Der Schöpfer Adams besuchte Adam in der Unterwelt; er ging hinunter und rief: "Adam, wo bist du?", wie er ihm im Garten gesagt hatte (Gen 3,9). Dieselbe Stimme, die ihn zwischen den Bäumen gerufen hatte, kam herab, um ihn unter den Toten zu rufen ». Der Tag der großen Stille ist paradoxerweise zum Tag der Forschung, Begegnung und Liebe geworden. Der Anhänger der bekennenden Kirche Dietrich Bonhoeffer schrieb: «... in Jesus von Nazareth, der Offenbarer, Gott ... will dort sein, wo der Mensch nichts mehr ist ... Wo Jesus ist, da ist die Liebe Gottes. Die Schriften verdeutlichen ihre ganze Ernsthaftigkeit, indem Jesus oder die Liebe Gottes ... auch das Schicksal auf sich nimmt, das alles Leben und den Tod beherrscht, das heißt, wenn Jesus, der die Liebe Gottes ist, wirklich stirbt; nur so kann der Mensch sicher sein, dass die Liebe Gottes ihn begleitet und ihn auch im Tod führt; Und der Tod des als Straftäter gekreuzigten Jesus zeigt, dass die göttliche Liebe ihren Weg zum Tod des Straftäters findet; und wenn Jesus am Kreuz stirbt und schreit: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15,34) bedeutet dies, ... dass die ewige Liebe Gottes den Menschen nicht verlässt, selbst wenn dieser an dem ‘Verlassensein‘ von Gott verzweifelt”2..

Ich wünsche euch allen ein gesegnetes Osterfest

Massimo Grilli

Übersetzung: Hilde Tourlonias